„Wahrhaftig und einfühlsam erzählt „RÄUBERHÄNDE“ von einer tiefen, prägenden Freundschaft und vom einzigartigen Lebensgefühl mit 18″
In der Schwebe
von Alexandra Seitz
Janik und Samuel haben das Abi geschafft und wollen zusammen nach Istanbul reisen – in ein neues, selbstbestimmtes Leben. Doch kurz vor dem Trip wird ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Mit „Räuberhände“, der am 2. September im Kino startet, hat İlker Çatak den Erfolgsroman von Finn-Ole Heinrich verfilmt. Wahrhaftig und einfühlsam erzählt der Film von einer tiefen, prägenden Freundschaft und vom einzigartigen Lebensgefühl mit 18. Emil von Schönfels und Mekyas Mulugeta glänzen als Freundespaar, das sich auf eine länderüberspannende Suche nach Freiheit, Heimat und Identität macht. Alexandra Seitz über einen Film, der Spannungen zulässt und aushält und sich dabei simplen Lösungen verweigert.
Samuel und Janik sind beste Freunde. Sie kennen einander von Kindesbeinen an und mittlerweile in- und auswendig. Nun, da beide ihr Abitur bestanden haben und auf dem Weg sind ins Erwachsenenleben, könnten sie eine Männerfreundschaft beginnen. Oder eine Liebesbeziehung? „Räuberhände“ von İlker Çatak ist ein Film der Zwischentöne, Übergänge und Möglichkeiten. Ein Film, der das noch nicht ganz Festgefügte in vielfacher Weise und auf zahlreichen Ebenen gestaltet: in den Charakteren und ihrer Entwicklung, in den Familienverhältnissen und den Handlungsräumen, in der Art und Weise, in der sich der Erzählfluss fortbewegt, im Ausgang, den die Geschichte schließlich nimmt.
Dabei scheint zu Beginn eigentlich alles einfach organisiert, klar gegliedert, simpel. Höchst effektiv und in wenigen Szenen etabliert Çatak sein Figurenarsenal und dessen sozioökonomischen Hintergrund: Janik stammt aus einer intakten Familie – er ist ein Einzelkind, lebt in einem hübschen Haus im Grünen in abgesicherten finanziellen Verhältnisse, seine Eltern sind Lehrer am Gymnasium, liberal, umweltbewusst, tolerant. Samuel hingegen muss sich um seine drogenabhängige Mutter Irene kümmern, die vom Alter her auch seine große Schwester sein könnte. Die beengte Wohnung in der Hochhaussiedlung versinkt in den Überresten der Partys, die Irene mit irgendwelchen nachhause geschleppten Männern feiert. Und von seinem Vater weiß Samuel nur, dass er Osman heißt und Türke ist. Er schämt sich für seine Mutter, für ihre Entgleisungen und Übergriffigkeiten.
Janik hingegen reibt sich an seinen Eltern, die immer und für alles Verständnis haben. Und während Samuel an Janiks Eltern gerade ihre Abgeklärtheit und Ruhe schätzt, findet Janik an Samuels Mutter ihre Unbefangenheit und Zugänglichkeit cool – und heimlich findet er sie zudem noch ziemlich sexy, was zu Problemen führen wird. Dem Anschein nach kümmern sich Janiks Eltern bereits sehr lange mit um Samuel, so dass er eben nicht nur der beste Freund ihres Sprösslings ist, sondern für sie auch fast ein zweiter Sohn.
Und nun werden die Jungs flügge. Aufbruch ins Leben – eine Reise in die Türkei ist geplant, nach Istanbul. Auch so ein Zwischen-Ort, die Stadt am Bosporus, auf der Grenze zweier Kontinente liegend. Für Janik ist sie ein Freiheitsversprechen, für Samuel vielleicht die Verheißung von Heimat. Denn es liegt auf der Hand, dass Samuel in der Türkei nach dem anderen, noch unerschlossenen Teil seiner Identität suchen, dass er das Vaters-Erbe in sich erkunden und ihm Raum geben will. Ob dann noch Raum für Janik bleibt? Der jedenfalls kommt mit, weil die beiden schon immer alles gemeinsam gemacht haben. Janiks Freundin hingegen bleibt zuhause, weil keine Frau je zwischen zwei beste Freunde kommt. Oder ist da nicht vielleicht mehr?
Zwei, drei Szenen reichen Çatak, um seine Figuren und ihre Welt recht vollständig vor uns hinzustellen. Man könnte versucht sein zu sagen, dass es am Beginn von „Räuberhände“ zugeht wie in einem Fernsehfilm: Klischees werden aufgefahren und reichen bis in die Ausstattung. Bei welcher Gelegenheit einem dann allerdings einmal mehr klar wird, dass die Funktion von Klischees auch darin besteht, den Komplikationen, die aus ihnen heraus entwickelt werden können, einen stabilen Verwurzelungsboden zu liefern. Bekanntlich steckt in allen Klischees nicht nur ein Körnchen Wahrheit, und entscheidend ist ohnehin, was man daraus macht. Çatak jedenfalls macht erstmal ein Fass auf.
Im Drogenvollrausch nämlich begegnen Janik und Samuels Mutter einander auf eine einigermaßen grenzwertige Weise. Aber Janik ist immerhin schon volljährig und auch keine Unschuld vom Lande mehr. Dass dann aber Samuel in die Szene platzt, lädt nicht nur die bevorstehende Reise mit mächtig viel Konfliktpotenzial auf, sondern gefährdet die gesamte Freundschaft. Mit einem Mal liegt auf dem zuvor auch körperlich unbefangenen Umgang der beiden eine Art Fluch, mit einem Mal fühlen sich Berührungen, die ganz selbstverständlich waren, seltsam an, mit einem Mal ist da eine Verkrampfung, wo vorher eine Vertrautheit war. Lässt sich das wieder reparieren? Und wie?
Spätestens als die beiden „trotzdem“ zusammen losfahren, wird klar, dass „Räuberhände“ Erwartungen an gängige Muster der Konfliktführung nicht bedient. Çatak ist, das beweisen auch sein bisherigen Film, kein Mann für simple Lösungen, was mit seinem Werdegang zu tun haben könnte: 1984 in Berlin geboren, macht İlker Çatak sein Abitur an der Botschaftsschule in Istanbul, wo er im Alter von 12 bis 20 lebt. Das Studium der Filmregie absolviert er danach in Berlin und Hamburg. Für „Sadakat“, seinen Abschlusskurzspielfilm an der Hamburg Media School, erhält er 2015 den Studenten-Oscar in Gold und gewinnt außerdem den Kurzfilmwettbewerb des Max-Ophüls-Festivals. Sein Langfilmdebüt folgt 2017 mit „Es war einmal Indianerland“, einer Adaption des gleichnamigen Jugendromans von Nils Mohl nach dessen eigenem Drehbuch, die den fantasievollen Turbulenzen der Vorlage vollauf gerecht wird. Gemeinsam mit Mohl schreibt Çatak auch das Drehbuch für „Es gilt das gesprochene Wort“, einen der großen Arthouse-Erfolge des Jahres 2019, der das Migrantendrama und den Liebesfilm mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit unter einen Hut bringt. Mit „Räuberhände“ hat er nun den gleichnamigen, 2007 erschienenen Jugendbuch-Bestseller von Finn-Ole Heinrich verfilmt, der zusammen mit Gabriele Simon auch das Drehbuch schrieb.
Heinrichs Roman, der auch als Theaterstück am Hamburger Thalia-Theater Erfolge feierte, zählt mittlerweile an vielen Schulen zur Pflichtlektüre. Nicht zuletzt, weil die Geschichte, die darin erzählt wird, in keine der allerorten aufgestellten heteronormativen Interpretationsfallen tappt. Der Autor berichtet, er werde vor allem von den Jungs unter seinen Leserinnen oft gefragt, ob es „eine schwule Geschichte“ sei. Diese Frage, so der Autor, müsse aber jeder für sich selbst beantworten. Sicher ist, dass eine Interpretation des Stoffes, der sich dezidiert auch den physischen Aspekten einer Freundschaft unter Jungs bzw. jungen Männern widmet, zu kurz greift, wenn sie diese Körperlichkeit kurzschlussartig als homosexuell kategorisiert. In diesem Zusammenhang ist Çataks behutsames Vorgehen bei der Adaption nicht genug zu loben, ist doch das Faszinierende seiner Verfilmung gerade, wie sie die Dinge in der Schwebe belässt und die Zärtlichkeit der Jungs als etwas schlicht Gegebenes respektiert, ohne es festlegen zu müssen.
Die gelassene Haltung, die sich darin ausdrückt, ist eine, die, gespeist aus eigener Erfahrung mit Zuständen des Dazwischen, die Spannung aushält, die diesen Zuständen innewohnt. Dieses Zulassen und Aushalten von Spannungen zeichnet „Räuberhände“ insgesamt aus. Nicht nur im Verhältnis zwischen Samuel und Janik, die von Mekyas Mulugeta und Emil von Schönfels ebenso mutig wie verletzlich verkörpert werden – auch im filmischen Zugriff auf den zentralen Handlungsort Istanbul, der zugleich der Sehnsuchtsort der beiden Freunde ist, aber auch der Ort, an dem sich die große Verunsicherung zuträgt.
In dieser Stadt, die Çatak offensichtlich wie seine Westentasche kennt, wird das fiktive Geflecht der Romanverfilmung mit einem Male durchscheinend, bewegt sich die Kamera dokumentarisch und spielerisch, fängt alltägliche Straßenszenen ein, das Leben der Leute im Vorübergehen, hier erlangt sie die große Kraft des Authentischen. Die wiederum wirkt auf die noch unsicher tastenden Schritte der Jungmänner auf dem ungewohnten – nicht nur geografischen, sondern eben auch emotionalen – Terrain zurück. Stoff und Form greifen hier wunderbar ineinander. Und İlker Çatak hat seinem beeindruckenden Œuvre einen weiteren, reichen Film hinzugefügt.
Kritik von Alexandra Seitz, 01.09.2021, sissymag.de