„Ilker Çatak gelingt mit der Romanverfilmung „RÄUBERHÄNDE“ einer der besten deutschen Coming-of-Age-Filme“
Die Frankfurter Rundschau schreibt:
Ilker Çatak gelingt mit der Romanverfilmung „Räuberhände“ einer der besten deutschen Coming-of-Age-Filme.
Wenn man sich einen Phoenix wünschen kann, der sich aus der Asche der Lockdown-Zeit erheben möge, dann wohl das deutsche Kino. Doch wie schon in Cannes ist es auch beim Festival von Venedig praktisch unsichtbar. Lange könnte man darüber diskutieren, was den deutschen Film schon vor Corona strukturell in eine eigene Krise getrieben hat, doch das wäre zu diesem Zeitpunkt ausgesprochen ungerecht. Jetzt geht es vor allem darum, die Perlen aus dem Corona-Staub zu bergen damit sie in der Flut der nachgeholten Kinostarts nicht untergehen.
In einer gerechten Welt wäre einem „Räuberhände“, Ilker Çataks schon 2019 abgedrehte Verfilmung des Romans von Finn-Ole Heinrichs, längst beim „Deutschen Filmpreis“ begegnet. Es ist die rarste Rarität im deutschen Kino, ein künstlerischer Film für ein breites Publikum, warmherzig und doch unsentimental. Alles, was so oft schiefgeht, bringt er zum Strahlen – die Rollenbilder, soziale Konflikte, Sexualität.
Als Coming-of-Age-Film ist er auf Augenhöhe mit den beiden jungen Männern, um die es geht, zwei Abiturienten, denen Freundschaft, die gemeinsame Selbstfindung und ihr Freiheitsgefühl für einen flüchtigen Lebensmoment wichtiger sind als alles andere. Wahrscheinlich hätte es auch für diesen Film keinen besseren Moment geben können, entdeckt zu werden als diesen Augenblick zurückgewonnener Freiheiten. Deshalb muss man ihn auch schnell sehen, denn auch Filme sind nur einmal jung.
Der Filmemacher ist sich der sozialen Verortung seiner Figuren in jeder Sekunde bewusst, ohne ein großes Thema daraus zu machen. Wie er überhaupt die Sehnsüchte seiner Protagonisten, zweier 18-Jähriger, die sich ohne Rückfahrkarten nach Istanbul aufmachen, funkeln lässt, ohne sie gleich ins Räderwerk eines bewährten Genres einzuzwängen.
Eigentlich liefe ein Film von solcher Qualität auf einem großen internationalen Festival, aber dem stand vielleicht wiederum die Bescheidenheit der künstlerischen Haltung entgegen. Denn Çataks Kunst ist von der unaufdringlichen Sorte. Das verbindet sie wohl bereits mit der in Deutschland als Schullektüre populären Romanvorlage.
Ein Kritiker schrieb damals darüber, es sein ein gelungener Coming-of-Age-Roman. Aber dann sei es doch schade, dass es „nur“ ein Coming-of-Age-Roman sei. Was ist so schlecht am „Genre“ des „jungen Werther“ und des „Fängers im Roggen“? Es ist die Sorte Bücher, die man als Schüler oder Schülerin entdeckt und nie wieder vergisst. Wahrscheinlich ist es die wichtigste Gattung überhaupt, weil sie uns nicht nur ins Leben, sondern auch in die Kunst einführt.
Aber so ist es nun einmal, auch im deutschen Film: Allein die Tatsache, dass sie sich bevorzugt an ein jugendliches Publikum wandten, haben so bedeutende Regisseure wie Hark Bohm, Haro Senft oder Michael Verhoeven in der kritischen Wahrnehmung immer in der „zweiten Reihe“ des Neuen Deutschen Films festgehalten. Und nun kommt zur Schullektüre noch ein kongenialer Film, der es Deutschlehrenden schwer machen wird, die beliebte Regel aufrecht zu erhalten, Bücher seien ihren Adaptionen doch fast immer überlegen.
Die brillanten Dialoge sind dabei nicht wichtiger als Songtexte. Die Stimmung wird getragen von einem berauschenden Bildfluss (Kamera: Judith Kaufmann). Zunächst erscheint er so unbeschwert wie der von Emil von Schönfels gespielte Janik gerade sein aufblühendes Leben zu umarmen scheint. Nur nebenbei dringt hinein, was er erst später zu bewerten lernt: Die soziale Not seines besten Freundes Samuel (Mekyas Mulugeta), mit dessen suchtkranker Mutter Janik ein sexuelles Erlebnis hat. Der Wert eines behütenden Elternhauses oder schließlich die Unvereinbarkeit sich schnell verändernder Lebenskonzepte.
Der soziale Gegensatz in der Herkunft der Figuren hätte leicht die Oberhand gewinnen können. Aber Ilker Çatak ist nicht Ken Loach; er belässt das Thema „Klassismus“, das die mitteleuropäischen Gesellschaften heute so sehr an der sozialen Umverteilung hindert, gut wahrnehmbar im Hintergrund. So erwartet man zunächst, dass kulturelle oder ethnische Differenzen zu den entscheidenden dramatischen Konflikten der Geschichte führen könnten – Samuel überrascht seinen Freund erst in der Türkei damit, dass er dort nach seinem ihm unbekannten Vater sucht.
An anderer Stelle scheint die Suche nach sexueller Orientierung zu einem tragenden Motiv zu werden, aber nichts davon gewinnt die Oberhand, und das ist wirklich ungewöhnlich, insbesondere in Jugenddramen: Çatak hat kein „topical“, keinen Themenfilm gedreht. Sein lyrisches Drama erzählt von jungen Menschen, die gerade dabei sind, das Glück und die Trauer, ihre Chancen und Nöte für sich selbst zu entdecken. Es ist eine chaotische Lebensphase, und dazu passt kein „ordentlicher“ Film.
Schon der letzte des Regisseurs war ein Beziehungsstück vor dem Hintergrund kultureller Unterschiede. Auch „Es gilt das gesprochene Wort“, das Drama über eine Scheinehe, war meisterlich. Aber was für ein Stimmungswechsel: Alle Romantik, der sich der frühere Film dieses Regisseurs enthielt, kommt nun doppelt zurück – aber befreit von den Konventionen einer Liebesgeschichte. Aber auch das ist ja ein wunderbares, nur selten erfasstes Thema der Pubertät – das Ausloten von Sexualität, Partnerschaft, Liebe in Paarbeziehungen oder in der Familie.
In einem herrlichen Dialog streiten sich die Jungen kurz darüber, aus welcher ihrer Kulturen nun die Wörter „Simsalabim“ und „Abrakadabra“ kommen. Vom Standpunkt des Regisseurs aus betrachtet, macht das wohl keinen großen Unterschied. Hauptsache, man kann zaubern.
Räuberhände. D 2021. Regie: Ilker Çatak. 89 Minuten.
Kritik von Daniel Kothenschulte, 01.09.2021, Frankfurter Rundschau